Anfang Oktober hat die Landesregierung Baden-Württemberg das Klimaschutzgesetz verschärft. Spätestens 2040 soll der Südwesten klimaneutral sein – bisher waren 90 Prozent Treibhausgaseinsparung bis 2050 anvisiert. Eine Studie zeigt nun erstmals, was das für den Ausbau erneuerbarer Energien im Land bedeutet. Die Untersuchung wurde im Auftrag der Plattform Erneuerbare Energien Baden-Württemberg (Plattform EE BW) erstellt und am 27. Oktober 2021 veröffentlicht. Das zentrale Ergebnis: Trotz massiver Energieeinsparung muss sich die installierte Leistung zur Erzeugung von erneuerbarem Strom bis 2040 mindestens verfünffachen, von heute rund zehn auf mehr als 50 Gigawatt. Da der Ausbau derzeit noch von den politischen Rahmenbedingungen gehemmt werde, brauche es nun rasch Änderungen, fordert Jörg Dürr-Pucher, Vorsitzender der Plattform EE BW. Unter anderem müsse das Genehmigungs- und Planungsrecht entrümpelt werden.
Die 38 Seiten umfassende Studie ist online frei zugänglich: https://erneuerbare-bw.de. Die Untersuchung zeigt eine realistische Abschätzung des künftigen Energieverbrauchs und den nötigen Ausbau der erneuerbaren Energien, um diesen klimaneutral zu decken.
Die zentralen Ergebnisse der Studie: Die installierte Leistung zur Erzeugung von erneuerbarem Strom muss sich bis 2040 auf mindestens 52 Gigawatt verfünffachen, die erneuerbare Wärmeerzeugung muss bei stark sinkendem Verbrauch mindestens verdoppelt werden. Dafür ist eine erheblich höhere Geschwindigkeit beim Ausbau als in den vergangenen zehn Jahren erforderlich. „Die möglichen Ausbaupfade für die erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg sind aus Sicht der Erneuerbaren-Branche ambitioniert“, sagt Dürr-Pucher. „Die erneuerbaren Energien können jedoch die für Wirtschaft und Gesellschaft notwendigen Mengen an Strom und Wärme liefern. Bedingung ist jedoch, dass die politischen Rahmenbedingungen für diesen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt stimmen.“
Photovoltaik und Windenergie leisten die größten Beiträge im Stromsektor
Die Photovoltaik (PV) und die Windenergie sollen im Jahr 2040 zusammen rund 70 Prozent des bis dahin gestiegenen Bruttostromverbrauchs in Baden-Württemberg decken. Um das zu erreichen, muss die installierte Leistung der auf Dächern, Fassaden und im Freiland installierten PV-Module bis 2040 mehr als verfünffacht werden, von heute knapp sieben auf rund 39 Gigawatt. Die jetzige Ausbaurate von etwa 0,6 Gigawatt pro Jahr sollte dementsprechend weiter auf zwei Gigawatt pro Jahr wachsen und das schnellstmöglich, spätestens aber ab 2030.
Bei der Windenergie vergrößert sich im Szenario die installierte Leistung bis 2040 um den Faktor sieben von heute 1,6 Gigawatt auf dann 11,5 Gigawatt. Da neue Windenergieanlagen immer leistungsstärker werden und alte Anlagen ersetzen, werden im Jahr 2040 je nach Anlagengröße etwa 2.000 bis 2.400 Anlagen benötigt. Das sind nur etwa drei Mal so viele, wie heute zwischen Lörrach und Tauberbischhofsheim im Land stehen. Voraussetzung ist, dass der zuletzt stark eingebrochene jährliche Zubau, 2020 lag er bei lediglich 0,05 Gigawatt, schnell und stark zunimmt: Nötig sind fast 0,9 Gigawatt jährlich ab dem Jahr 2030 und über ein Gigawatt pro Jahr spätestens ab 2035.
Auch andere Erneuerbare sind wichtig für das Energiesystem
Auch bei den weiteren EE-Technologien gibt es noch Ausbaupotenziale. Ihre steuerbare Stromerzeugung ist im Stromimportland Baden-Württemberg für die Netzstabilität von besonderer Bedeutung. So können die bestehenden Biogasanlagen mit ausgebauter Leistung flexibler Strom erzeugen und auch die Tiefengeothermie wird neben der wichtigen Wärmeproduktion zur Stromerzeugung beitragen. Vor allem durch Modernisierung aber auch durch den Bau neuer Kleinwasserkraftanlagen steigt im Szenario die Stromerzeugung durch Wasserkraft um etwa ein Sechstel an.
Bis 2040 geht die Studie von einem Anstieg des Stromverbrauchs im Land von heute 69 auf 92 Terawattstunden aus. 40 Prozent könnte Solarstrom abdecken, knapp 30 Prozent die Windenergie. Zwölf Prozent würden die nicht volatilen Erneuerbaren beisteuern, also Wasserkraft, Geothermie und Bioenergie. Rund 16 Prozent müsste wie derzeit importiert werden. Erzeugung im Land und Import reichen aus, um die prognostizierte höhere Stromnachfrage im Südwesten zu decken.
Zusätzliche Flexibilität durch gasbasierte Stromerzeugung
Zum Ausgleich der fluktuierenden Sonnen- und Windenergie enthält das Szenario neben der Annahme gut ausgebauter Stromnetze und Speicher auch den Neubau von Gaskraftwerken mit einer Leistung von 1,6 Gigawatt. Diese und die bereits bestehenden Kraftwerke werden dann schrittweise auf grünen Wasserstoff umgestellt und weiterhin in Kraft-Wärme-Kopplung – zur gleichzeitigen Strom- und Wärmenutzung – betrieben. Der Kohleausstieg ist im Szenario für 2030 vorgesehen.
Wende im Wärmesektor besonders notwendig
Zum Wärmesektor: Das Szenario beinhaltet eine Verdopplung der erneuerbaren Wärmeerzeugung auf Basis von Biomasse, Solarthermie, mit Hilfe von Wärmepumpen genutzter Umweltwärme und Tiefengeothermie von heute 22 Terawattstunden pro Jahr auf 41 Terawattstunden pro Jahr im Jahr 2040. Angenommen wurde ein deutlich reduzierter Wärmeverbrauch, unter anderem durch die energetische Sanierung von Gebäuden. Zusammen mit dem Einsatz von grünem Wasserstoff für industrielle Prozesswärme und als Erdgasersatz in (Block-)Heizkraftwerken kann so eine klimaneutrale Wärmeversorgung für Baden-Württemberg erreicht werden. Eine weitere Option ist die Nutzung nicht vermeidbarer industrieller Abwärme, die im Szenario nicht dargestellt werden konnte.
Derzeit dominiert die (feste) Biomasse die erneuerbare Wärmeerzeugung. Das Szenario enthält einen leichten Anstieg dieser Art der Wärmebereitstellung. Die größten Steigerungsraten haben jedoch der Einsatz von Wärmepumpen (Faktor 4,5), Solarthermie (Faktor 5) und Tiefengeothermie. Bei der Nutzung der Tiefengeothermie (bislang gibt es nur eine Pilotanlage in BW) zeichnet sich mit konkreten Projektplanungen entlang des Oberrheins eine Erhöhung der Wärmeerzeugung auf eine Terawattstunde pro Jahr bis spätestens 2030 und auf etwa 4 Terawattstunden jährlich bis 2040 ab.
Neben dem Fokus auf Strom und Wärme beinhaltet das Szenario auch Abschätzungen zur Transformation des Verkehrssektors. Erneuerbarer Strom, Biokraftstoffe und strombasierte Kraftstoffe – grüner Wasserstoff und Folgeprodukte – werden die zentralen künftigen Energieträger sein. Strombasierte Kraftstoffe werden 2040 mit 26 Terawattstunden 55 Prozent des Energiebedarfs in der Mobilität decken. Die verbleibenden 10 Prozent entfallen auf biogene Kraftstoffe, deren heutiger absoluter Beitrag von rund vier Terawattstunden gleich bleibt.
Rahmenbedingungen auf Landesebene und in Kommunen anpassen
Um den erforderlichen Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2040 sicherzustellen, sind zahlreiche Nachbesserungen des regulatorischen und wirtschaftlichen Rahmens notwendig. Unverzichtbar für den Ausbau der erneuerbaren Energien sind angepasste Rahmenbedingungen im Stromsektor. Die Plattform EE BW schlägt daher eine praxisgerechte Ausgestaltung von Ausschreibungen und des Genehmigungs- und Planungsrechtes vor. So müssten feste Fristen definiert und eingehalten, Vorgänge digitalisiert und Artenschutzvorgaben vereinfacht sowie rechtssicher gestaltet werden. Bei Abwägungen solle zudem dem Klimaschutz mehr Gewicht zukommen. Besonders wichtig ist nach Meinung der Plattform EE BW, auch ausreichend Flächen für den Ausbau der regenerativen Energien bereitzustellen. Allein für die Windenergie sind zwei Prozent der Südwestfläche nötig. Hinzu komme ein deutlich geringerer Anteil für Solarparks.
„Für eine umfassende Dekarbonisierung des Wärmesektors und die größtmögliche Nutzung Solarthermie, Tiefengeothermie, großen Wärmepumpen, industrieller Abwärme und zunehmend auch Biomasse benötigen wir jedoch einen konsequenten, zeitlich und örtlich abgestimmten Ausbau von Wärmenetzen und Wärmespeichern. Die kommunale Wärmeplanung bietet dafür einen hervorragenden Ansatzpunkt“, so Dürr-Pucher. Einen weiteren wichtigen Baustein stellten Anreize für eine möglichst rasche Umsetzung der in den Wärmeplänen genannten Maßnahmen dar. Zudem müssten Wärmeplane als Fachplan in die weiteren Aufgaben der Stadtplanung integriert werden.
Die Studie wurde durch Dr. Joachim Nitsch erstellt. Nitsch war am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Stuttgart tätig und ist Experte auf dem Gebiet Szenarioanalysen.
Die Studie wird am 28. Oktober 2021 von 11:00 bis 12.15 Uhr online durch Dr. Joachim Nitsch vorgestellt und im Anschluss mit Jutta Niemann, MdL (Bündnis 90/ Die Grünen) und Raimund Haser, MdL (CDU) diskutiert. Infos und Anmeldung: https://erneuerbare-bw.de/de/termine/veranstaltungen.
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